D. Luginbühl: Vom «Zentralorgan» zur unabhängigen Tageszeitung

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Titel
Vom «Zentralorgan» zur unabhängigen Tageszeitung?. Das «Vaterland » und die CVP 1955–1991


Autor(en)
Luginbühl, David
Reihe
Religion, Politik, Gesellschaft in der Schweiz, hg. von Urs Altermatt 45
Erschienen
Freiburg i. Ü 2007: Academic Press
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
David Neuhold

Der zu besprechende Band von David Luginbühl liegt am Analyse-Schnittfeld von Presse, Politik, Gesellschaft und Religion und zeigt eindrücklich, kompakt und methodisch gelungen die Geschichte der Tageszeitung «Vaterland» in den Jahren 1955–1991. Das in Luzern verlegte Blatt mit zum Teil nationaler Ausstrahlung bewegte sich im historisch gewählten Beobachtungszeitraum vom «Zentralorgan» der katholisch-konservativen bzw. christlich-sozialen Bewegung – wie exemplarisch am Wahlkampf 1955 aufgezeigt – hin zu einem relativ unabhängigen Printmedium, das sich zusehends an wirtschaftlichen Kriterien, also «am Markt», zu orientieren begann und dem Namen nach 1991 verschwand. Das «Vaterland» ist primär als «Gesinnungspresse» zu sehen. Seine Ursprünge reichen in die 1830er Jahre zurück, und es war «seit Anbeginn nicht nur eine der konservativen Partei, sondern auch der katholischen Kirche verbundene Zeitung» (S. 33).

Luginbühl stützt seine historische Analyse hauptsächlich auf unveröffentlichtes Quellenmaterial der LZ Medien Holding sowie der CVP und der CSP. Komplementär dazu wurde die Möglichkeit genutzt, Zeitzeugen zu befragen, dies aber mit der angebrachten Distanz und Skepsis (S. 13). Die materiellen Grundlagen der Studie sind also grösstenteils «institutioneller Natur», diejenigen eines Medienunternehmens sowie diejenigen einer Partei. Daraus ergibt sich dann auch das Hauptaugenmerk der Untersuchung: Das Verhältnis des «Vaterlands» zur CVP bzw. deren Vorgängerparteien. Hier werden nun Nähe und Distanz hinsichtlich dreier Ebenen beobachtet: 1. die personelle (S. 35–67), 2. die inhaltliche (S. 69–110) sowie 3. die strukturelle Ebene (S. 111–145).

Die Betrachtung der involvierten Personen/Akteure zeigt enge Berührungspunkte zwischen dem Unternehmen der Tageszeitung wie der Katholisch-Konservativen/ Christlichdemokraten, v.a. der Region Luzern. Die Vaterland AG war eine «von Privaten getragene Aktiengesellschaft», «eine gut überblickbare Gruppe», deren Generalversammlungen einer Art Parteiversammlung glichen (vgl. S. 35). Ihr Verwaltungsrat war eine «Domäne der katholisch-konservativen Parteielite» (S. 36). Trotzdem gab es immer wieder auch Spannungen im Binnenbereich, v.a. aufgrund der Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung von Christlichsozialen. Was die Redaktoren angeht, die ja mehr im Lichte der Öffentlichkeit standen, waren die Veränderungen im analysierten Zeitraum markanter, kantiger: Bis etwa 1970 war das Redaktionsteam eng mit der Parteipolitik verzahnt, so z.B. der christlichsoziale Nationalrat und «Vaterland»-Chefredaktor Karl Wick (1891–1969). Später zeigte sich grössere Distanz und Freiheit. Luginbühl schreibt nüchtern, dass sich der Verwaltungsrat jedoch in den 1960er und 1970er Jahren zunehmend mit dem Problem konfrontiert sah, «abtretende Redaktoren nicht mehr ohne weiteres mit gestandenen Politikern ersetzen zu können, die gleichzeitig das nötige publizistische Rüstzeug mitbrachten und bereit waren, zu niedrigen Löhnen die Strapazen des Redaktorenberufs auf sich zu nehmen» (S. 53). Diesen Wandel verkörperte u.a. Otmar Hersche, der 1970 Chefredaktor wurde und für «frischen Wind» (S. 55ff.) sorgte. Der prononcierteste Wandel jedoch, im Speziellen für das Verhältnis von Partei und Zeitung, fand sich unter Hermann Schlapp 10 Jahre später. Dieser betrieb auf seine – beinahe anachronistische (vgl. den letzten Absatz dieser Studie) – Weise die Loslösung der Tageszeitung (Verzicht auf die Bezeichnung «Zentralorgan » 1983, vgl. S. 104) von der Partei und die Positionierung des «Vaterlands» als wertkonservatives Blatt. Beide Personen, Hersche und Schlapp, verkörpern spezifische Emanzipations- und Professionalisierungstendenzen des (schweizerischen) Medienwesens. Politische Mandate für Redaktoren wurden in den letzten Jahren des «Vaterlands» schliesslich folgerichtig untersagt.

Für die inhaltliche Betrachtung zieht Luginbühl zwei signifikante Wahlverläufe heran: 1955 stand das «Vaterland» ganz im Dienst der Partei, und zwar in seiner vollen Wucht. 1973 wurde es zum Sprachrohr innerparteilicher Opposition im Rahmen einer Nachbesetzung des Bundesratssitzes von Roger Bonvin. Auch (interne) Grundsatzüberlegungen bzw. Studientagungen dienen Luginbühl für eine inhaltliche Analyse: Mitte der 1970er Jahre wurde das «Vaterland» von einem Parteiblatt zu einem parteigerichteten Blatt, auch andere Parteien konnten nun im «Vaterland» für ihre Sache inserieren. Später – wie wir schon gesehen haben – wurde es zu einem Gesinnungsblatt, bevor die zwei Fusionen am Standort Luzern 1991 und 1995 folgten. «Die grosse Fusion von 1995 markierte den endgültigen Sieg der Forumspresse über die weltanschaulich engagierten Zeitungen [...]. Nach der Zeit der Parteiblätter schien auch jene der Gesinnungspresse endgültig vorbei zu sein» (S. 110).

Auch für die wirtschaftlich-strukturelle Schiene zeigt sich die Bedeutung desmilieugestützten Parteiensubstrats für das «Vaterland», sei es in der Akquirierung von Kapital (für den Aufbau einer Druckerei bzw. ihren technischen Ausbau), der Anwerbung von Abonnementen sowie in der überregionalen Kooperation mit anderen CVP-nahen Blättern im Verlauf der einsetzenden Pressekonzentration (S. 121–135). Dabei wurde letztendlich doch die Zusammenarbeit mit dem «politischen Erzfeind», dem «Luzerner Tagblatt», aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus (z.B. dichterer und umfassenderer Adressatenkreis für Werbeeinschaltungen im Raum Luzern schon seit 1971) am attraktivsten erachtet und umgesetzt. Luginbühl hält zusammenfassend fest, dass sich das «Vaterland» bis 1991 in all seinen Transformationen nie zu einer parteiunabhängigen Tageszeitung entwickelte (S. 152).

Die Studie ist in sich abgerundet und sehr gelungen – man erhält einen guten Eindruck der Vorgänge und Entwicklungen des ausgewählten Gegenstandes. Zudem wurde das wertende Element weit in den Hintergrund gedrängt, was gefällt. Trotzdem seien an dieser Stelle einige Anmerkungen bzw. Anregungen erlaubt, die weiterführen könnten: Der Terminus «Reformationsdruck» (S. 79) klingt ungewohnt, das II. Vatikanum (1962–1965) bleibt in der vorgelegten Arbeit eher blass, es dient zuvorderst als «Chiffre des Wandels» innert und am Ende des «katholischen Milieus». Wo aber waren die ideellen Bezugspunkte für die an dieser Stelle behandelte Emanzipationsgeschichte? Gab es solche, oder haben wir es eher mit einem Ereignis zu tun, das allgemein-diffus (positiv) rezipiert wurde? Luginbühl weist explizit darauf hin, dass solche Fragen seine Ausführungen sprengen würden – trotzdem erachtet sie der Rezensent als wichtig. Wäre zudem ein komparatistischer Blick erhellend, der den Schweizer Raum überschreitet? In Österreich etwa scheint es mit dem 1869 begründeten Styria-Konzern (Träger der seit 1904 bestehenden «Kleinen Zeitung») in Graz einen ähnlich gelagerten Fall zu geben.

Ganz grundlegend ist aber richtig, wenn Luginbühl festhält, dass das Ende der Parteipresse noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung harrt (S. 15). Zudem ist dem Autor zuzustimmen, wenn dieser ein wenig verwundert darüber ist, dass die lauten Stimmen, die nach dem Ende der vielfältigen Partei- und Gesinnungspresse in der Schweiz einen Schaden für die Demokratie insgesamt befürchteten, verstummt sind. Ist die Tagespresse heute wirklich jene valide vierte Staatsgewalt der Kontrolle und Aufsicht, oder wie «Vaterland»-Chefredaktor Schlapp es ausdrückte, der «demokratische Wachhund» (S. 66)? – Die hier angezeigte Studie ist für weiterführende Arbeiten in diesem Sinne ein wertvoller Beitrag – formelle Sorgfalt, ein nützliches Register sowie tabellarische Übersichten runden das positive Bild ab.

Zitierweise:
David Neuhold: Rezension zu: David Luginbühl: Vom «Zentralorgan» zur unabhängigen Tageszeitung? Das «Vaterland » und die CVP 1955–1991 (Religion, Politik, Gesellschaft in der Schweiz, hg. von Urs Altermatt 45). Freiburg i. Ü., Academic Press, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, S. 110-112.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, S. 110-112.

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